Einen mit vielen Fakten, kritischen Aspekten, aber auch mit Lösungen gespickten Vortrag konnten jetzt die rund 80 Teilnehmer*innen des Unternehmer*innen-Frühstücks der Stadt Minden und der MEW (Mindener Entwicklungs- und Wirtschaftsförderungsgesellschaft) erleben. Der Ökonom, Politikberater und Professor für Makroökonomie an der Humboldt-Universität in Berlin, Marcel Fratzscher, sprach über die „wirtschaftliche Transformation als Chance für Unternehmen“.
Der aktuelle Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) begeisterte die Teilnehmer*innen mit einer Analyse der aktuellen weltwirtschaftlichen Lage sowie der politischen und gesellschaftlichen Situation in der Bundesrepublik Deutschland. Bürgermeister Michael Jäcke begrüßte die Gäste aus Politik, Wirtschaft und Stadtgesellschaft im Restaurant „Scarabeo“. Er stellte den Referenten vor und moderierte im Anschluss des Vortrags auch die rege Diskussion.
Ein großes Problem sieht Wirtschafts-Experte Marcel Fratzscher vor allem in der „mentalen Depression“, die es aktuell gebe. „Wirtschaft besteht zu 80 Prozent aus Psychologie“, so seine These. Unternehmen bräuchten für erfolgreiches Handeln gute, stabile Rahmenbedingungen und weniger Regulierungen. Bürger*innen bräuchten insgesamt mehr Verlässlichkeit. Sein Fazit: Es muss mehr Vertrauen geschaffen und wieder mehr investiert werden.
Die Bundesrepublik müsse sich in den kommenden Jahren vor allem auf ihre Stärken fokussieren: Das seien ein starker Rechtsstaat, starke staatliche Institutionen, Solidarität und die gute wirtschaftliche Basis, die auf oft familiengeführten, mittelständischen Unternehmen aufbaue. Mit mehr Zusammenhalt in der Gesellschaft könnten Krisen besser bewältigt werden. Dazu seien drei Transformationen – die globale/wirtschaftliche, die technologische/digitale sowie eine soziale – notwendig.
Die Transformation werde nur gelingen, wenn auch die Menschen Konsequenzen und Änderungen akzeptieren. Nicht gelungene Beispiele dafür seien neue Gesetze mit großer Reichweite, wie das schlecht kommunizierte „Heizungsgesetz“. Seine große Sorge bestehe darin, dass „die soziale Komponente in diesem Veränderungsprozess nicht mitgedacht wird“, so der DIW-Präsident. Die schwere Aufgabe für die „Mitwirkenden“: Alle drei Transformationen sind unmittelbar und gleichzeitig zu bewältigen, wenn Deutschland weiter mithalten will.
„Unser Wirtschaftsmodell profitiert von Offenheit“, streicht der Experte mit Bezug auf die erstgenannte Transformation heraus. Und weiter: „Wir müssen das Modell der Globalisierung neu denken und dürfen dieses nicht ad acta legen, sondern sollten es neu aufstellen“, so sein Rezept. Es gelte die vorhandene Asymmetrie in manchen Wirtschaftsbeziehungen abzubauen. Die deutsche Wirtschaft sei stark vom Export abhängig. Die Bundesrepublik verfüge über wenig Rohstoffe – im Gegensatz zu China und den USA. Beide Länder seien auch bei der Entwicklung von „grüner Technologie“ weit vorn.
Investitionen deutscher Unternehmen in China seien massiv gewesen, die Abhängigkeit somit groß. Großes Kapital könne bei einem Abzug verloren gehen. Die Lösung für Unternehmen sei Diversifikation, also sich mehrere Standbeine aufzubauen. Krisen könnten so besser überwunden werden. Aus „just in time müsse „just in case“ werden. Auch müsste wieder deutlich mehr investiert werden. Fratzscher lobte in dem Zusammenhang, die beschlossenen Investitions-Pakete des Bundes als „positives Signal“. Deutschland habe die geringste Staatsschuldenquote von allen Industrieländern, stellte er fest.
Auch Unternehmen sollten wieder mehr „gute Schulden“ machen. Das seien Investitionen in Vermögenswerte, die es in den vergangenen zehn Jahren seiner Ansicht nach zu wenig gegeben habe. Hier gebe es einen Wertverlust. Auch in Nachhaltigkeit und Digitalisierung müssten deutsche Unternehmen mehr investieren. China dominiere bei der Batterie-Technik. Seine Feststellung: „Bei den Schlüsseltechnologien hinken wir hinterher“. Es müsse bessere Rahmenbedingungen und weniger Regulierungen geben, lautete eine Forderung. Das Thema „Entbürokratisierung“ sei ein TOP-Thema der Wirtschaft. Darüber hinaus gelte es die „globale Herausforderung“ des Klimawandels zu meistern.
Marcel Fratzscher bezog auch Stellung zur aktuellen Grundgesetzänderung, die eine Lockerung der Schuldenbremse und die Einrichtung eines Sondervermögens Höhe von 500 Milliarden Euro für Infrastruktur und Klimaschutz ermöglicht. In diesem Zusammenhang sprach der Experte an, dass die Hälfte aller Investitionen in Deutschland von den Kommunen getätigt werden. 186 Milliarden Euro betrage der aufgelaufene Investitionsstau. Deshalb werde das vom Bund beschlossene Geld aus dem Sondervermögen „essentiell gebraucht“. Er stellte dazu die Frage in den Raum: „Wie weit kommen Städte und Gemeinden mit den 100 Milliarden Euro?“ Da Kommunen und Länder 70 Prozent der Investitionen in Deutschland umsetzen, müssten es eigentlich 300 Milliarden von den 500 Milliarden sein, rechnete der Ökonom vor.
Er nahm mit Bezug auf die soziale Transformation auch die Bürger*innen in den Fokus, die mit großen Preissteigerungen bei Lebensmitteln und für Energie umgehen müssten. Zahlreiche Menschen seien – auch durch hohe Mieten, die teilweise 40 Prozent der eigenen Ausgaben ausmachten – finanziell stark belastet. Die Unzufriedenheit sei hoch und die Bereitschaft für Veränderungen eher gering. Hier gelte es für die Politik, „Akzeptanz zu schaffen, Menschen mitzunehmen und den Sinn für Gemeinschaft zu stärken“.
Bürger*innen sollten auch nicht vernachlässigen, fürs Alter und für schlechte Zeiten vorzusorgen, empfahl der Experte. 40 Prozent der Menschen hätten keine Ersparnisse. Ein weiterer Aspekt der sozialen Transformation: Man müsse die Perspektive mehr auf Jüngere richten, die häufiger „vergessen“ würden, was der Tatsache geschuldet sei, dass knapp 60 Prozent aller Menschen in der Bundesrepublik über 50 Jahre alt sind und nur 15 Prozent unter 30.
Der erstarkte Populismus befeuere die „mentale Depression“. Der Staat könne nicht alles richten, machte Fratzscher deutlich. Ein Teilnehmer sprach in der Diskussion auch von „einer Vollkaskomentalität“. Weitere Themen in der anschließenden, von Bürgermeister Michael Jäcke moderierten Runde waren der Fachkräftemangel, Investitionen in Bildung, die weiter notwendige gesteuerte Zuwanderung und auch die Integration der rund drei Millionen Geflüchteten, die laut Fratzscher – ein „echtes Potenzial“ für die Wirtschaft bilden – ebenso wie die 7 Millionen in Mini-Jobs oder in Teilzeit arbeitenden Frauen und Männer.