Das „NesT“-Programm der Bundesregierung machte es möglich, dass zwei Flüchtlingsfamilien, die ursprünglich aus dem Sudan und aus Syrien kommen, jetzt in Minden ein neues und sicheres Zuhause gefunden haben. „NesT“ steht für Neustart im Team. Beide Familien haben gemeinsam, dass sie in dem Land, in das sie ursprünglich geflohen sind, nicht bleiben konnten, weil sie auch dort weiterhin existenziell gefährdet waren. Im Gegensatz zum bislang rein staatlichen „Resettlement“ arbeiten bei diesem Pilotprogramm Staat und Zivilgesellschaft eng zusammen.
Dem NesT-Programm gemäß werden die beiden Familien in Minden jeweils von einer fünfköpfigen Mentor*innen-Gruppe unterstützt und begleitet. Darüber hinaus engagiert sich für die Familie aus dem Sudan die Stadt Minden und für die Familie aus Syrien der Evangelische Kirchenkreis Minden. Beide stellen jeweils eine Wohnung zur Verfügung und koordinieren die Hilfe.
„Bis zur Ankunft der Familien in Minden waren viele Voraussetzungen im Vorfeld zu erfüllen“, weiß der Erste Beigeordnete der Stadt Minden, Peter Kienzle, der im Frühjahr 2019 von dem Programm erfahren hat und den Stein bei der Stadt Minden ins Rollen gebracht hat. Parallel dazu hatte er auch Kontakt zum damaligen Superintendenten, Jürgen Tiemann, der ihm berichtete, dass die Evangelische Kirche in Westfalen mit anderen Partnern entsprechende Pilotprojekte starten möchte. „Damit war für mich klar, wie NesT in Minden in einem ersten Schritt in einer Kooperation zwischen Evangelischer Kirche und Stadt umgesetzt werden könnte“, so Kienzle.
Im Dezember 2020 wurde das Programm den Mitgliedern des Sozialausschusses vorgestellt, die daraufhin einen einstimmigen Beschluss fassten, die gefundenen Mentorinnen mit der Bereitstellung einer von der Stadt Minden angemieteten Wohnung für zwei Jahre zu unterstützen. „Aus dem Bestand wurde 2021 eine größere Wohnung ausgesucht, um eine Familie mit mehreren Kindern aufnehmen zu können“, berichtet Ruth Georgowitsch, stellvertretende Leiterin des Bereiches Soziales. Der Mietvertrag zur Wohnung der Familie aus dem Sudan wird nach den zwei Jahren direkt mit dem Vermieter geschlossen. Das wurde zuvor schon vereinbart, damit die Familie nicht in Wohnungsnot gerät.
Das Engagement der evangelischen Kirche in Westfalen für das Resettlement-Programm geht auf einen Beschluss der Landessynode im Jahr 2017 zurück. Damals wurde entschieden, dass die westfälische Landeskirche 100 bis 120 besonders schutzbedürftigen Flüchtlingen einen Neustart in Nordrhein-Westfalen ermöglichen will. Superintendent Michael Mertins freut sich, dass die beiden Familien mit Hilfe des NesT-Programms nun eine neue Bleibe in Minden gefunden haben. „Ganz im Sinne der Seebrücke-Initiative, der sich Minden vor rund anderthalb Jahre angeschlossen hat, haben dank NesT immerhin neun Personen in unserer Stadt einen ‚sicheren Hafen‘ gefunden – und das ohne auf einer der gefährlichen Fluchtrouten ihr Leben riskieren zu müssen“, sagt er und würde sich wünschen, dass sich noch weitere Mindener Mentor*innen-Gruppen gründen.
Die syrische Familie ist 2012 geflohen und hat bis zur Einreise in Deutschland im Libanon gelebt. Seit August 2021 wohnt sie in Minden in einer Wohnung, die der Kirchenkreis für sie angemietet hat. Die Söhne sind 15 und 13 Jahre alt. Die beiden gehen zur Schule und besuchen internationale Förderklassen. Ihre Eltern stehen auf der Warteliste für den nächsten Integrationskurs. Gemeinsam mit der ehrenamtlichen Mentor*innen-Gruppe betreuen auch die Flüchtlingsberater*innen des Kirchenkreises, Oliver Roth, Elke Bikowski, Anna Gasiewski und Suzan Azer die Familie. Eine Schlüsselrolle spielt Suzan Azer, die fließend Arabisch spricht und die der Familie immer wieder als Übersetzerin zur Seite steht. Sowohl die Eltern als auch die Söhne haben in Minden bereits erste Kontakte geknüpft. So engagieren sich zum Beispiel der Vater und der ältere Sohn ehrenamtlich in der Fahrradwerkstatt der evangelischen Flüchtlingsberatung.
Die Familie aus dem Sudan ist seit Anfang Dezember 2021 in Minden. Die Fünf sind „sehr glücklich, nun endlich sicher und dankbar, hier sehr freundlich aufgenommen worden zu sein“, berichtet die zuständige Mitarbeiterin in der Stabsstelle Integration, Gisela Posch. Ihr ist es über das Bündnis „Seebrücke Minden“ gelungen, fünf Mentorinnen zu finden, die sich nun rund ein Jahr abwechselnd um die Familie kümmern. Drei stehen noch im Berufsleben, zwei sind Rentnerinnen. „Wir haben eine Gruppe in einem Online-Dienst gegründet, um uns kurzfristig abstimmen zu können, wer was übernimmt“, berichtet Gertraud Strohm-Katzer, eine der Mentorinnen.
Im Sommer 2021 haben die städtischen Mentorinnen geholfen, die Wohnung mit vorzubereiten. Die Grundausstattung stellt die Stadt Minden – wie auch anderen Geflüchteten – in den von ihr angemieteten Wohnungen zur Verfügung. „Richtig wohnlich ist es dann aber nicht“, weiß Gertraud Strohm-Katzer. So haben sie und ihre vier Mitstreiterinnen noch das eine oder andere Möbelstück, Geschirr und Haushaltswaren vom Zentrallager, aus privaten Spenden und auch im Stöberparadies der Diakonie besorgt. Auch viele andere geflüchtete Menschen in Minden wurden in der Vergangenheit so von Ehrenamtlichen oder mit Spenden unterstützt.
"Es hat ziemlich lange gedauert - vermutlich auch wegen der Pandemie - bis wir endlich die Information bekommen haben, dass die Familie, die die Stadt unterstützt, auf dem Weg ist. Sie ist vor neun Jahren aus dem Sudan nach Ägypten geflüchtet und hat zuletzt in Kairo gelebt“, berichtet Gisela Posch. Erste Station in der Bundesrepublik Deutschland war Mitte November die Erstaufnahmeeinrichtung Friedland. Hier musste die Familie zunächst für 14 Tage in Quarantäne bevor sie weiterreisen durfte. Die Mentorinnen haben dann die Mutter, den Vater und drei Söhne im Alter von 15, 14 und neun Jahren in Friedland abgeholt.
„Danach ging es richtig los“, so Strohm-Katzer. Sie und die weiteren Mentorinnen haben sich zunächst um die Versorgung mit Lebensmitteln gekümmert und Kontakte mit Ärzten aufgenommen, sich auch um Coronaschutzimpfungen und Untersuchungen bemüht sowie den Kontakt zur Schule hergestellt, wo die drei Jungen inzwischen eine internationale Klasse besuchen. Des Weiteren mussten Behördengänge begleitet, Dokumente übersetzt und Anträge auf Leistungen nach dem SGB II ausgefüllt werden. Das Jobcenter des Kreises Minden-Lübbecke übernimmt die Nebenkosten für die Wohnung und stellt die Hilfe zum Lebensunterhalt.
„Was für geflüchtete Menschen und Familien besonders wichtig ist, ist das Internet. Das hilft, den Kontakt zu Verwandten und Freunden im eigenen Land zu halten“, weiß Strohm-Katzer, die durch ihre frühere Beschäftigung bei der VHS Minden viel Erfahrung mit Geflüchteten gesammelt hat. Auf eigene Kosten haben daher die Mentorinnen einen mobilen „Rooter“ für die Familie aus dem Sudan besorgt. Denn es sei nicht ganz einfach, so Strohm-Katzer, als gerade in Deutschland angekommener Mensch, einen Vertrag mit einem Telekommunikationsunternehmen zu schließen oder auch ein Bankkonto zu eröffnen.
Die Aufenthaltserlaubnis (§ 23 Abs. 4 Aufenthaltsgesetz) für die beiden in Minden aufgenommenen Familien gilt zunächst für drei Jahre. Im Anschluss besteht die Möglichkeit einer unbefristeten Aufenthaltserlaubnis. Sie haben neben dem Zugang zum Arbeitsmarkt auch Anspruch auf einen Integrationskurs, der in Kürze für die sudanesischen Eltern beginnt. Gisela Posch und Gertraud Strohm-Katzer sind zuversichtlich, dass die Integration gelingt. „Die alle drei sportlichen Jungs fühlen sich in der Schule sehr wohl und haben bereits erste Kontakte zu Mitschülern geknüpft.“ Auch die Eltern seien sehr interessiert, Deutsch zu lernen und Minden besser kennen zu lernen.
Wer sich näher über das NesT-Programm informieren möchte und sich vorstellen kann, eventuell selbst Teil eines NesT-Mentor*innen-Teams zu werden, kann sich bei der Flüchtlingsberatung des Kirchenkreises melden (Elke Bikowski, Mail: fluechtlingspaten@kirchenkreis-minden.de).
Informationen zu NesT
Weltweit brauchen laut UNHCR (United Nations High Commissioner for Refugees = Hoher Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen) rund 1,4 Millionen besonders schutzbedürftige Menschen dringend eine Chance, in einem anderen Land zu leben als im Erstzufluchtsstaat. Seit 2014 gehört auch Deutschland zu den Ländern, die ein solches „Resettlement“ ermöglichen. 500 Menschen, die diese Voraussetzungen erfüllen, werden mit dem Pilotprojekt zusätzlich in der Bundesrepublik aufgenommen. Im Gegensatz zum bislang rein staatlichen Resettlement arbeiten bei dem Pilotprogramm Staat und Zivilgesellschaft eng zusammen.
Bei „NesT“ („Neustart im Team“) schließen sich mindestens fünf ehrenamtliche Mentor*innen zusammen, um einer Flüchtlingsfamilie oder auch einer Einzelperson in Deutschland einen guten Start zu ermöglichen. Sie stellen für zwei Jahre eine Wohnung zur Verfügung oder bringen dafür die Miete auf. Außerdem unterstützen sie die Geflüchteten im ersten Jahr nach der Einreise ideell, also zum Beispiel bei Behördengängen und beim Kennenlernen des neuen Umfelds.
Sobald sich eine Mentor*innen-Gruppe gefunden hat, eine Wohnung zur Verfügung steht und die Ehrenamtlichen entsprechende Schulungen besucht haben, schlägt das Bundesministerium für Migration und Flüchtlinge eine Familie oder Einzelperson aus dem Kreis der von UNHCR ausgewählten Personen vor. Menschen, die über das NesT-Programm nach Deutschland kommen, müssen keinen Asylantrag stellen. Sie bekommen eine verlängerte Aufenthaltserlaubnis für drei Jahre und haben Anspruch auf Integrationskurse, auf Zugang zum Arbeitsmarkt und auf Sozialleistungen. Rechtlich sind sie weitestgehend Flüchtlingen gleichgestellt, die nach der Genfer Flüchtlingskonvention anerkannt sind.
Die „besondere Schutzbedürftigkeit“ stellt das Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen (UNHCR) fest und vermittelt die Personen in einen sicheren Drittstaat. Beteiligt an dem Verfahren in der Bundesrepublik Deutschland ist auch das BAMF (Bundesamt für Migration und Flüchtlinge). Ziele von „NesT“ sind neben dem Schutzgedanken insbesondere die Erleichterung der Integration von Flüchtlingen durch bürgerschaftliches Engagement, die Stärkung der gesellschaftlichen Akzeptanz von Flüchtlingen durch sofortigen Kontakt und die Unterstützung bei gesellschaftlicher Teilhabe.
„NesT ist schon im Kerngedanken eine ausgesprochen kluge Konzeption“, findet der Erste Beigeordnete der Stadt Minden, Peter Kienzle. Klug deshalb, weil das Programm auf der Grundüberzeugung beruht, dass Integration nicht staatlich angeordnet und auch nicht durchgeführt werden kann. Vielmehr müsse Integration als gesamtgesellschaftliche Aufgabe – eben „im Team“ – verstanden werden, so Kienzle weiter. Alle müssen hier zusammenwirken: Bund, Land, Kommune und Zivilgesellschaft. „Nur so gelingt Integration vor Ort“, ist der Erste Beigeordnete überzeugt. Und so werde Integration seit mehr als zehn Jahren in Minden verstanden und ausgestaltet – wie er findet - „bis heute mit großem Erfolg.“
Link: https://www.neustartimteam.de/
Pressestellen der Stadt Minden und des Evangelischen Kirchenkreises Minden, Susann Lewerenz/Carola Mackenbrock