„Wir brauchen (k) eine Gleichstellung“: Diskussionen und Workshops zur Geschlechtergerechtigkeit


Nach fünf Tagen Programm rund um das Thema Geschlechtergerechtigkeit im Rahmen der Wandeltage 2021 ziehen die beiden Organisatorinnen Luisa Arndt, Gleichstellungsbeauftragte Stadt Minden und Silke Williams, stellvertretende Gleichstellungsbeauftragte, ein positives Fazit: Wir haben damit Menschen erreicht. Los ging es am Montag (30. August) mit dem Vortrag „Wer braucht Feminismus?“ von Jasmin Mittag. Einen Tag später gab es einen Austausch mit der Lokalpolitik, daran anschließend gab Eva Waldschütz von „Doctors for Choice“ einen Einblick in den Bereich Schwangerschaftsabbruch und geendet ist die Woche mit der Clit Night mit Louisa Lorenz.

„Besonders die Clit Night hat gezeigt, dass wir alle immer noch etwas dazulernen können und es bei der Sexualaufklärung noch Luft nach oben gibt,“ so Silke Williams. Dieser Online-Workshop machte deutlich, dass auch heute noch viele Mythen umhergeistern und einiges an Unwissen über die weibliche Genitalanatomie herrscht. Der Workshop will die vermeintlichen Wissenslücken in unserer Gesellschaft kritisch hinterfragen. Aus dem Grund wird gemeinsam das Basiswissen über die Anatomie erarbeitet und im Anschluss ein Blick in die Kulturgeschichte der Klitoris von der Antike bis heute geworfen. „Wir befinden uns in einem Spannungsverhältnis zwischen der Gesellschaft und den eigenen Anforderungen, denn das Private hat auch immer eine politische Komponente“, unterstreicht die stellvertretende Gleichstellungsbeauftrage Silke Williams.

Was können Lokalpolitiker*innen in Minden für die Geschlechtergerechtigkeit tun – das war die Frage, die während einer Diskussionsrunde erörtert wurde. Gemeinsam mit Luisa Arndt sprachen Jule Kegel (Die Linke), Frank Dunklau (Alternative für Deutschland), Claudia Herziger-Möhlmann (Bürgerbündnis Minden), Carlo Rodex (Wir für Minden), Emelie Segler (Bündnis 90/Die Grünen) und Sabine Hauptmeier (AG Frauen) darüber, was vor Ort auf politischer Ebene getan werden soll. 

Gemeinsamer Standpunkt war, dass Gleichstellung eine Gesellschaftsaufgabe ist. Mit Blick auf die Parlamente in Deutschland zeigt sich: nur rund 30 Prozent der Abgeordneten sind Frauen. Das trifft auch auf den Mindener Stadtrat zu. „Es müssen mehr Frauen in die Politik, da werden Möglichkeiten nicht ausgeschöpft“, ist sich Claudia Herziger-Möhlmann sicher. Frank Dunklau hält dagegen und spricht sich, aus eigenen Erfahrungen heraus, gegen eine Geschlechterquote aus. 

Es ist anstrengend gegen das sogenannte Hintergrundrauschen, also Rollenbilder, die in TV, Filmen und der Gesellschaft vermittelt werden, anzukommen. Erst wenn man persönlich von einem Problem betroffen sei, werde man aktiv und wolle etwas in Bewegung bringen, hebt Carlo Rodex hervor. Jule Kegel lenkte den Blick auf den medizinischen Bereich – dort werden Daten, wie Dosierung von Medikamenten oder Symptome von Krankheiten – anhand von männlichen Angaben erhoben. „Der Mann ist der Normalfall, die Frau die Ausnahme“, fasst Luisa Arndt zusammen. Und wo kann die Lokalpolitik einhaken? Luisa Arndt hat dazu einen Tipp: Probleme, die nicht benannt werden, die werden auch nicht aufgegriffen. Erst wenn man Themen immer wieder anspricht, kann sich etwas bewegen. 

Das kann auch die Künstlerin, Aktivistin und Autorin Jasmin Mittag unterschreiben. Ihr interaktiver Vortrag „Wer braucht Feminismus?“ verdeutlichte: nicht alles was auf dem Papier steht, wird auch so in der Gesellschaft umgesetzt. Anhand von vier Themenkomplexen - Politik, Gesundheit, Bildung und Wirtschaft – zeigte sie dem Publikum, dass Frauen noch immer in allen Lebensbereichen benachteiligt werden. „Bis heute ist die Gender Pay Gap nicht geschlossen und Frauen mussten sich das Recht auf Bildung schwer erkämpfen. Feminismus ist eine soziale Bewegung. Das ist noch nicht in der Breite der Gesellschaft angekommen“, stellt die Aktivistin fest.

Eva Waldschütz, pensionierte Frauenärztin und Mitglied bei „Doctors for Choice“, lenkte den Blick auf das Thema Schwangerschaftsabbruch. „Wir sind die Lebensschützer*innen, da wir das Leben der Frauen schützen“, unterstreicht sie. Ausgangspunkt für ihr Engagement war ein Erlebnis in Guatemala. „Damals konnte ich der Frau nicht helfen, weil ich nicht wusste was zu tun ist. Das hat mich sehr berührt“, erklärt Waldschütz. Genau wie einige Kolleginnen und Kollegen wurde auch sie zweimal angezeigt, weil sie Informationen zu Schwangerschaftsabbrüchen auf ihrer Internetseite veröffentlicht hat. Das ist laut §219a StGB noch immer verboten. Mit der Verurteilung von Kristina Hänel, die ihren Fall 2017 öffentlich gemacht hat, kam mehr Bewegung und Aufmerksamkeit in das Thema. 

Den Schwangerschaftsabbruch unter Strafe zu stellen, war eine politische Maßnahme. 1871 wurde Paragraf 218 vor dem Hintergrund des Mangels an Soldaten eingeführt. Es gab immer wieder politische Bewegungen, die daran etwas ändern wollen. „Aber man muss dafür zusammenarbeiten“, macht Waldschütz deutlich. Weiterhin stehen sich die unterschiedlichen Positionen unvereinbar gegenüber – das macht die Debatte in Deutschland um den §219a StGB zum sogenannten Werbeverbot für Schwangerschaftsabbrüche deutlich. 

„In den mehr als 30 Jahren, in denen ich Schwangerschaften abgebrochen habe, habe ich nicht immer alle davon nachvollziehen können. Aber das ist eine Entscheidung der Frauen und der Familien. Auch wenn es nicht immer leicht fällt das zu akzeptieren, man muss das Thema immer aus der Sicht der Betroffenen sehen“, unterstreicht die pensionierte Frauenärztin.

„Daran wie breit aufgestellt das Programm war, kann man sehen, wie viele Themen sich unter dem Begriff Geschlechtergleichheit versammeln. Theoretisch könnte die Veranstaltungsreihe noch monatelang weitergeführt werden. Praktisch ist es mir aber lieber, wenn alle und insbesondere die Politik, verstehen, dass es auf das Engagement einer und eines jeden ankommt. Nur so können wir in dem Bereich weiter vorankommen und nicht nur den Status quo verwalten“, fasst Luisa Arndt zusammen. 

Die Stadtverwaltung Minden hat sich im Rahmen der diesjährigen Wandeltage (27. August bis 5. September) mit einem der 17 Nachhaltigkeitsziele der Vereinten Nationen (Sustainable Developement Goals, kurz SDG) auseinandergesetzt: das Ziel Nummer 5 Geschlechtergerechtigkeit.

Die Wandeltage sind eine Initiative des Nachhaltigkeits-Netzwerks 17plus und werden von der Mindener Stadtverwaltung unterstützt. Sie bieten die Möglichkeit, insbesondere während der Corona-Krise über eine sozial-gerechte und ökologisch nachhaltige Gestaltung unserer Zukunft nachzudenken sowie die Menschen zu informieren und zu inspirieren.

Pressestelle Stadt Minden, Katharina Heß,  pressestelle@minden.de, Tel.: + 49 571 89-240.